Anne Nurmi ist eine Stimme, die durch die Dunkelheit leuchtet – elysisch, verletzlich, kraftvoll. Seit 1994 prägt sie als Sängerin und Keyboarderin die Klangwelt von LACRIMOSA, zuvor war sie Mitbegründerin der finnischen Band Two Witches. Ihre Kompositionen sind wie kleine Schmuckstücke, behutsam aus dem Kästchen genommen, um die Seele zu berühren. In jedem ihrer Solostücke liegt ein Herzschlag, der zwischen Melancholie und Hoffnung pulsiert.
In meinem Portrait habe ich Anne Nurmis musikalische Reise nachgezeichnet – von den frühen Jahren bis zu den tiefgründigen Liedern der Gegenwart. Nun, im Rahmen dieses Interviews, öffnet sie erneut ein Fenster zu ihrer Innenwelt. Es ist ein Gespräch über Kunst, Glauben, Wandel und die Kraft, die aus Gemeinschaft und Musik erwächst.
Doch manchmal erreicht uns eine Nachricht, die alles in ein anderes Licht taucht. Als ich Anne Nurmi meine Fragen schickte, wusste ich nicht, dass sie sich gerade in einer schweren gesundheitlichen Phase befindet. Umso berührender ist es, dass sie dennoch geantwortet hat. Dieses Interview ist nicht nur ein Gespräch – es ist ein Zeichen von Stärke, Tiefe und Verbundenheit.
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- Hallo Anne, Ihre musikalische Reise begann mit Two Witches und führte Sie später zu LACRIMOSA – zwei sehr unterschiedliche, aber prägende Kapitel. Vermissen Sie manchmal diese frühe Phase Ihrer künstlerischen Laufbahn?
Hallo,
es war eine spannende Zeit, im jugendlichen Alter Musik zu machen – ohne viel Knowhow. Aber ganz ehrlich: Es ist schöner, etwas besser zu wissen, was man tut, und sich sicherer zu fühlen. Und Tilo ist da eine große Stütze.
- Blättern Sie gelegentlich im inneren sowie externen Bandalbum und erinnern sich an die Energie und Atmosphäre jener Zeit – auch an die frühen und gegenwärtigen Jahre mit LACRIMOSA?
Ja, das tue ich gerne. Es waren sehr prägende Jahre, die mich sowohl menschlich als auch musikalisch geformt haben. Ohne diese Zeit mit LACRIMOSA wäre ich nicht die Person, die ich heute bin!
- Wie würden Sie die kreative Dynamik zwischen Ihnen und Tilo Wolff beschreiben – was macht Ihre musikalische Zusammenarbeit besonders?
Wir sind beide sehr kreativ – das liegt in unserem Wesen. Meistens passen unsere musikalischen Ideen gut zusammen, und ich würde sagen: Wir ergänzen uns perfekt.
Tilo ist außerdem ein außergewöhnlich guter Komponist und Arrangeur – auch für Orchester, was wirklich nicht viele können. Davon kann ich sehr profitieren.
- LACRIMOSA ist bekannt für eine starke künstlerische Handschrift. Wie bringen Sie Ihre eigene Stimme und Vision in diesen gemeinsamen Kosmos ein?
Wir komponieren manche Stücke gemeinsam, und meine Werke sind nicht ohne Tilos Hilfe entstanden. Wir befinden uns in einem fortlaufenden kreativen Prozess, indem ständig Neues entsteht – und ich kann mich so viel einbringen, wie ich möchte.
Ich bin auch immer die Erste, die neue Kompositionen hören darf, und ich kann meine Meinung ganz frei äußern. Tilo nimmt meine Kritik ernst, geht oft darauf ein und nimmt entsprechende Änderungen vor.
- Welcher Ihrer Songs bereitet Ihnen noch Gänsehautmomente?
Das sind viele. Auf der letzten „Lament“-Tour durch Lateinamerika waren es Lieder wie „Lament“, „Avalon“, „Liebe über Leben“ oder mein neuestes Stück „Dark Is This Night“, bei denen ich stellenweise sehr emotional wurde – auch in Zwiesprache mit dem Publikum.
Es ist wunderschön zu erleben, wenn die Zuhörer:innen die Lieder genauso liebgewonnen haben wie wir selbst.
- Wenn Sie auf Ihre Songs zurückblicken, gibt es einen Songtext oder auch einen Song, der Ihnen persönlich viel bedeutet? – Oder vielleicht sogar ein Album von Lacrimosa?
Da alle Texte sehr persönlich sind, möchte ich meine letzten Lieder erwähnen. „Daughter Of Coldness“ ist ein Stück über die Erkenntnis, dass ich heute kaum noch etwas von meinen finnischen Ideologien und dem damaligen Wesen in mir trage. Die Zeit verändert einen – und damit auch die Lieder und Texte. Jede Lebensphase hat Einfluss auf unsere Musik.
„Dark Is This Night“ handelt von meinen nächtlichen Gedanken, von den Emotionen, die das Leben mit sich bringt und die ich in dunkler Nacht ganz für mich allein verarbeite.
- Was war für Sie das prägendste oder auch seltsamste Erlebnis auf einer Tour – sei es ein besonderer Ort, ein Publikum oder ein Moment hinter den Kulissen?
Das eigentlich Prägendste und Schönste auf Tourneen sind die Menschen – so unterschiedlich sie auch sind. Von Stadt zu Stadt, selbst innerhalb eines Landes, begegnet man neuen Charakteren und Stimmungen.
Das macht es spannend, aber auch herausfordernd, einen Zugang zu ihnen zu finden. Man fühlt sich fast täglich, als wäre man in einem anderen Kulturkreis.
Und ansonsten liebe ich die verschiedenen landestypischen Speisen – die Unterschiede und Zubereitungsarten finde ich wahnsinnig spannend.
- Wie verändert sich Ihre Beziehung zur Musik, wenn Sie live auftreten?
Die Musik bekommt einen noch tieferen Sinn, weil sie emotionaler wird. Man kann alles spüren – sich selbst, das Publikum, den Moment.
Musik verwandelt sich dann von bloßer Unterhaltung zur Lebenskraft.
- Was gibt Ihnen persönlich Kraft und Inspiration in herausfordernden Zeiten – schöpfen Sie aus Kunst, Natur, Spiritualität oder etwas ganz anderem?
Ich glaube an Gott und bin Teil einer wunderbaren Gemeinde. Dazu kommen sehr gute Freunde und Familie, die mich immer unterstützen. Gerade jetzt ist es wunderschön zu erleben, wie viel Kraft mir diese Verbundenheit schenkt – denn ich bin leider schwer erkrankt.
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Als ich Anne Nurmi meine Fragen zuschickte, wusste ich noch nicht, dass sie schwer erkrankt ist. Die Nachricht erreichte die Öffentlichkeit Mitte September – und ließ meine Welt für einen Moment stillstehen.
Ihre Antwort auf diese Frage wirkt wie ein Lichtstrahl: Sie spricht von Glauben, von Gemeinschaft, von der Kraft, die ihr in dieser Zeit zuteilwird.
Umso mehr blicke ich mit tiefer Dankbarkeit auf ihre Worte – und auf die künstlerische Reise, die sie mit Lacrimosa gegangen ist.
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- Wenn Sie auf Ihre künstlerische Reise zurückblicken: Was hat Sie am meisten überrascht?
Wie die Zeit einen formt – man wird tiefgründiger, und auch die Musik reift mit. Ich bin sehr froh über die Musik, die ich heute machen darf. Sie berührt nicht nur mich, sondern macht auch viele andere glücklich oder nachdenklich – was ja nicht verkehrt ist.
Vielen Dank für das Interview und alles Gute!
Anne Nurmi
LACRIMOSA
Ich habe zu danken!
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Zum Abschluss möchte ich Anne Nurmi noch ein paar persönliche Worte widmen:
Liebe Anne,
als ich Ihnen meine Fragen zuschickte, wusste ich noch nicht, in welcher herausfordernden Lebensphase Sie sich gerade befinden. Umso mehr hat es mich berührt, dass Sie dennoch geantwortet haben. Ihre Worte sind weit mehr als bloße Antworten – sie stehen für Zuversicht, Kraft und Vertrauen.
Ihre Musik begleitet viele Menschen seit Jahren – auch mich. Doch in diesem Gespräch ist etwas hinzugekommen: eine stille, leuchtende Kraft, die aus Ihrem Innersten spricht. Ihre Gedanken über Glauben, Gemeinschaft, Wandel und nächtliche Reflexionen haben mich tief bewegt. Es ist, als würden Sie nicht nur erzählen, sondern einen Teil Ihrer Seele mit uns teilen.
Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Offenheit, Ihre Zeit und Ihre Bereitschaft, dieses Interview zu führen. Ich wünsche Ihnen Kraft, Licht und all die Liebe, die Sie selbst so großzügig in Ihre Kunst und in die Welt geben. Möge die Musik Sie weiterhin tragen – so wie sie uns trägt.
In tiefer Dankbarkeit und Verbundenheit, Marlene