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Marliina – My Funeral
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Marliina – My Funeral

Der Albumtitel „My Funeral“ entspringt einem eindringlichen Albtraum: Marliina träumte, sie würde gemeinsam mit ihrer Mutter Kleider für ihre eigene Beerdigung aussuchen. Doch dieser dunkle Moment wurde zum Wendepunkt – im Anschluss ermutigte ihre Mutter sie, das Alte hinter sich zu lassen und ein neues Kapitel zu beginnen. Dieser Impuls markierte den Startschuss eines kreativen und persönlichen Neubeginns, den Marliina in den Entstehungsprozess des Albums einfließen ließ. Dieser wurde zu einem Ausdruck innerer Stärke – und einer Erinnerung daran, auch in schwierigen Zeiten tief durchzuatmen und nach vorne zu blicken.

Bekannt für ihre verträumten Klaviermelodien, schlägt die Musikerin nun neue klangliche Wege ein. Ihr aktuelles Schaffen ist geprägt von einer atmosphärischen Mischung aus sphärischen Synthesizern, kraftvollen Bässen und intimen Klaviereinlagen. Diese verschmelzen mit unkonventionellen Akkordfolgen zu einer melancholischen Klangwelt, in der Marliinas markante Stimme – mal verletzlich, mal kraftvoll – sicher durch die emotionalen Passagen führt. Dabei spielt auch ihre Musik-Farben-Synästhesie eine zentrale Rolle: Sie lässt Klang und Farbe miteinander verschmelzen und inspiriert diese zu außergewöhnlichen kompositorischen Entscheidungen, die ihre Songs noch vielschichtiger machen.

Der Weg zu diesem Album war jedoch nicht geradlinig. Zwei Jahre lang kämpfte Marliina mit einer Schreibblockade – ausgelöst durch abwertende Reaktionen auf ihre surrealistischen Texte, Kunstwerke und Lieder. Erst im Sommer 2023, während einer Reise nach Kanada, fand sie zurück zu sich selbst: Gemeinsam mit Produzent Steve Dierkens entstanden dort neue Songs, die den kreativen Stillstand endgültig beendeten.

Heute steht „My Funeral“ nicht nur für einen Neuanfang, sondern auch für die Kraft, sich den eigenen Schatten zu stellen. Marliina lädt die Hörenden ein, sich mit ihr in die dunklen Tiefen des Meeres fallen zu lassen – auf der Suche nach sich selbst und dem Sinn hinter all dem, was war und noch kommen mag.

Die vielseitige Künstlerin und Kämpferin präsentiert in ihrem eindrucksvollen Opener „Abyss“ die bereits erwähnte Sinnsuche, bei der sie Themen wie Dunkelheit, Angst, Vertrauen und den inneren Kampf um Rückkehr und Hoffnung behandelt. Der Song steht für DEN Meilenstein in ihrer Karriere, da sie nach gesundheitlichen Problemen wieder kraftvoll singen kann und stolz auf ihre Rückkehr ist. Denn nach ihrem ersten Album „From Another World“ hatte sie das Schreiben aufgegeben: „‘Abyss‘ ist für mich ein Meilenstein, da ich den Song kraftvoller als je zuvor singe und das macht mich sehr stolz. Es war viel Arbeit und auch nicht so einfach wieder aufzustehen.“

Die balladeske Singleauskopplung „Invisible“ handelt von einer Person, die sich nach Unsichtbarkeit sehnt, um vor Schmerz, Unsicherheiten und den Erwartungen anderer zu entfliehen. Sie träumt von einer Welt ohne Sorgen, in der sie unbesiegbar, gar heldenhaft sein kann, und drückt den Wunsch nach Akzeptanz und Selbstschutz aus.

Die Lyrik zu „Stone Monster“ beschreibt die inneren Gefühle eines Menschen, der sich missverstanden und verletzt fühlt. Es werden Themen wie Einsamkeit, Schuld und das Empfinden, als Monster wahrgenommen zu werden, behandelt. Der Inhalt warnt vor den Konsequenzen, welche aus Ängsten und Selbstzweifeln resultieren können, und vermittelt ein starkes Bedürfnis nach Verständnis.

Die Ballade „Bishop“ spiegelt die Sehnsucht nach Nähe und die Trauer über den Verlust wider. Es ist ein Ausdruck von Liebe, die so tief geht, dass sie auch den Schmerz mit sich bringt, und von der Hoffnung, die Liebe wiederzusehen, auch wenn es nur in Träumen ist.

Den Abschluss einer hervorragenden Platte beschreibt mit „I’m Still Breathing“ eine Reise durch eine dunkle, einsame und steinige Wüste, die symbolisch für eine schwierige Phase im Leben steht. Dabei fragt sie sich, wie sie an diesen Ort gekommen ist und sucht nach Antworten. Mit Hilfe eines hellen, weißen Lichts und des Mondscheins findet sie langsam wieder zu sich selbst, erkennt, wer sie ist, und fühlt sich wach und lebendig. Sie betont das Gefühl des Atmens und des Neuanfangs, welcher sie befreit.

Im Verlauf des Albums wird das Wachstum von Marliinas Selbstbewusstsein und innerer Stärke zunehmender spürbar. Mit jeder Zeile schreit sie sinnbildlich zum Himmel, entfacht ihr inneres Feuer und lässt ihre Flamme lodern – während sich die Dunkelheit allmählich zurückzieht. Diese Entwicklung vollzieht sich nicht abrupt, sondern durchlebt Höhen und Tiefen, durch die sich Marliina Schritt für Schritt aus einer einsamen, düsteren Phase herausarbeitet.

„My Funeral“ erzählt somit eine einschneidende Geschichte von Selbstfindung, innerer Kraft und dem Weg aus der Finsternis heraus zu Klarheit und Selbstvertrauen. Es ist ein zutiefst persönlicher und emotionaler Ausdruck ihrer Sehnsucht nach Selbstschutz und Akzeptanz, ein mutiger Akt der Offenbarung, durch den sie ihre innere Reise dokumentiert und sich selbst in ihrer Wahrheit begegnet.

Als beeindruckendes DIY-Werk verkörpert das Album Marliinas Wandlung auf kraftvolle Weise. Mit emotional aufgeladenen Texten, atmosphärischen Melodien und einer authentischen Klangsprache gelingt es ihr, die Zuhörenden auf eine intime Reise mitzunehmen. „My Funeral“ ist nicht nur ein außergewöhnlich berührendes Album – es ist zugleich ein inspirierender Aufruf, sich den eigenen Schattenseiten zu stellen und aus ihnen neue Stärke zu schöpfen.


Wertvolle Links:


*** Ich habe das Album oft gehört. Und mir ist währenddessen immer mehr bewusst geworden, dass Marliina eine Kämpferin ist, die mit enormen Herzblut dabei ist und unglaublich viel für ihre Musik investiert. Bei manchen Songs dachte ich, meine Güte, was hat sie nur durchgemacht? Das Album wäre wohl auch Nadja Abd el Farags Soundtrack gewesen. „My Funeral“ – Ein verdammt gutes Werk „meiner“ DIY – Amy Lee  Stimme aus Deutschland.

Meine Vinyl: Eine marmorierte Sonderedition in Gelb mit schwarzen Schlieren, signiert. Gekauft in ihrem Shop inkl. Bandcamp Download Link.