Female Voices
You Are Reading
Charlotte Brandi
4
Portrait

Charlotte Brandi

Charlotte Brandi, bekannt als Sängerin, Songwriterin, Gitarristin und Keyboarderin des Berliner Indie-Duos Me And My Drummer, wuchs mit einem Proberaumgeruch auf, denn ihre Eltern sind ebenfalls Musikaffin. Das Duo Me And My Drummer veröffentlichte zwei EPs sowie zwei Alben und etablierte sich gleichzeitig als einer der besten Live-Acts, die die deutsche Indie-Szene zu bieten hat. Acht Jahre lang lief alles gut, bis die Band an ihrem logischen Ende angelangt war: Beide Mitglieder können sich nun die Zeit nehmen, Projekte über die Grenzen der Band hinaus zu entwickeln.

2015 begann Charlotte Brandi mit der Arbeit an ihrem Solodebüt, während sie auf dem Sofa ihrer Eltern einen gebrochenen Fuß pflegte. „The Magician“ ist ein Album, welches kompromisslos bis ins kleinste Detail arrangiert wurde: Die Qualität der Arrangements ist von üppiger Instrumentierung und ausgefeilten Sounds untermauert. Das meiste ihres musikalischen Schaffens kommt ursprünglich vom Klavier. Im Wohnzimmer der Familie in Dortmund, der Stadt, in der sie geboren und aufgewachsen ist, stand ein Klavier. Als sie nach Köln, dann Tübingen und schließlich Berlin zog, wurde dieses gegen einige Synthesizer eingetauscht. Vor einigen Jahren fand sie ein altes, restauriertes Klavier für ihre Wohnung. Wie ein alter, freundlicher Geist erweckte dieses Instrument ihre grundlegende, angeborene Sprache wieder zum Leben.

Zwei Jahre nach der EP „An das Angstland”– einem kleinen Werk über die Corona-Unsicherheit, der „deutschen“ Angst sowie Angstlust – wird Charlotte Brandi am 10. Februar 2023 ihr zweites Studioalbum „An den Alptraum” veröffentlichen. Und damit nicht nur ihren ersten deutschsprachigen Longplayer, sondern auch ein rein unter FLINTA*-Beteiligung produziertes Werk. Es geht um Männer, Frauen, die Angst, das Geld, den Tod und den Beitrag zur Revolution.

 

Die Entscheidung, das Album nur mit weiblichen oder weiblich gelesenen Personen umzusetzen, war eine gegen die Bequemlichkeit und für den überfälligen Paradigmenwechsel in der Musikwelt. „Kulturelle Neubesetzung wird nicht aus Komfort geboren und meines Wissens gibt es ein rein weiblich produziertes Album auf dem deutschen Markt noch nicht. Und wäre ich heute 14, würde ich dadurch lernen, dass es geht”, erzählt sie. Hinter diesem Idealismus steht auch eine Künstlerin, die kein Bestreben mehr auf Machtkämpfe im Studio mit männlichen Kollegen hat. „Ich habe mich während der Albumproduktion zum ersten Mal kein einziges Mal gefühlt wie ein kleines Mädchen”, sagt Charlotte Brandi über ihre Früchte konsequenter feministischer Prozessoptimierung.

Thematisch rasiert sie die stoppelige Gegenwart und führt den Tonfall ihrer EP von 2020 fort, wird sogar noch fordernder, schärfer und präziser. Vielleicht ist dieses Album auch in gewisser Hinsicht ein Versuch anzukommen, trotz der Tatsache, dass in ihm so viele Neuerungen stecken.

Die Themen spiegeln viele der aktuell geführten Diskurse wider, ohne sich mit universellen Antworten zu brüsten. „Ich möchte uns diese Themen zumuten”, sagt Charlotte Brandi und entlässt die Hörer:innen in eine einzigartige Klangwelt, in der Harmonie und Disharmonie, Anklage und versöhnliches Anschmiegen oft nur wenige Takte entfernt liegen. Und das ist vielleicht ihre größte Stärke: Die Gleichzeitigkeit aller Dinge zu bündeln zu einer eigenen wie eingängigen Fusion. Der Schmerz ist aus Glas, sie umsingt die Fragilität der Texte mit ihrer eigenen Verspieltheit.

In „Luzern“ ernährt sich ihr Körper hingebungsvoll im Schleier der Natur. Dort füttert sie die komplexen Leitgedanken mit Leben, Licht und Tod. Es ist ihr dunkles Lied an die Schweiz. – An das Ende, das wir nicht kennen.

Den Hit „Geld” könnte man für eine gut gelaunte Rumfahren-Hymne halten, kämen darin nicht Zeilen vor wie: „Merkst du, die Wirtschaft bricht da hinten ein/ Aber wir fahren weiter/ Steig einfach in das Auto zu uns ein/ Sei unser Tour-Begleiter.” So ist es eben eine Rumfahren-Hymne mit Kratzen im Hals, das da, ganz rational betrachtet, auch hingehört.

Charlotte Brandi zieht wie keine Zweite alle Register des Art-Pop und beweist damit einmal mehr, dass es in der hiesigen Musiklandschaft keine:r mit dieser Vielseitigkeit und ungebremsten Neugier gibt wie sie. Auch ihre schon immer beeindruckende Stimme erreicht auf „An den Alptraum” neue Freiheit und damit Facettenreichtum. Sie flattert, kratzt, stürzt ab, berappelt sich, brilliert ganz oben oder kommt von einem Ort ganz dunkel, ganz unten im tiefen Seufzer zurecht.

Diese Brüche und Facetten sind wichtig, um das Album atmen und pulsieren zu lassen, dank der Entscheidung, diesen Ungeschliffenheiten ihren Raum zu geben. Dabei bleibt ihr Sound zeitlos und stets unter voller Kontrolle, aber nie glatt, der alle Möglichkeiten umschifft, sich dem Zeitgeist anzubiedern.

Immer wieder blitzt zwischen den messerscharfen Zeilen ihr süffisanter, selbst-ironischer Humor durch. Die „laute Person mit markantem Gesicht”, wie sie in „Der Ekel” singt, schlägt sich damit durchs Dickicht einer Welt voll gleichgeschaltetem Individualismus.

Überhaupt war der Wechsel zur deutschen Sprache ein Befreiungsschlag, sagt Charlotte Brandi. Was schon in früheren Solowerken und bei ihrem ersten Projekt „Me and My Drummer” spürbar war, entfaltet sich hier zum ersten Mal in ganzer Größe: die Fähigkeit, von der größten bis in die kleinste Dimension zu erzählen und musikalisch wie textlich zu erfassen, was sonst schwer zu fassen ist.

Das augenzwinkernde Wortspiel im Titel verweist auf Entstehungsorte einzelner Songs am Alpenrand, aber auch auf „Eure Heimat ist unser Albtraum”, ein queerfeministischer Sammelband, der mit Deutschland und dem Heimatbegriff abrechnet. In vielerlei Hinsicht ist „An den Alptraum” ein Heimweg nach vorne. Oder zumindest der Anfang davon, die ersten Schritte auf unbefestigtem Gebiet, voller beschwingter Ungewissheit und rationalem Optimismus. Und das Manifest einer außergewöhnlichen Musikerin, die allem trotzt, dem es zu trotzen gilt. Trau dich, Baby, und steig ein.


Wissenswertes:

Foto: Annika Weertz

Live:

  • 30.03.23 Hamburg, Nachtasyl
  • 31.03.23 Bochum, Christuskirche
  • 01.04.23 Stuttgart, Merlin
  • 08.04.23 Berlin, Zenner

Wertvolle Links:

* Das Akronym FLINTA* steht für Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans und agender Personen.

*Fotos: Annika Weertz